Anahita Razmi im Gespräch mit Philine Griem (Deutsch)
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Philine: Ich würde gerne noch einmal an den Anfang zurückgehen. Du kommst ja aus einer künstlerischen Praxis, die sich nicht explizit mit historischen Künstlerinnenfiguren beschäftigt, aber immer wieder Bezüge zu gesellschaftlichen Phänomenen oder Vergangenem sucht. Du hast dich auf dieses Stipendienformat beworben, das eine Beteiligung an der Jubiläumsausstellung von Paula Modersohn-Becker vorsah. Was war der Beweggrund, warum hast du gedacht: Das könnte interessant sein, ausgehend von dieser historischen Figur eine Arbeit zu entwickeln?

Anahita: Wenn ich über meine Praxis nachdenke, gibt es eigentlich immer Bezüge zu existierenden Dingen und auch zu anderen künstlerischen Positionen. Ich schaue mir Dinge an, lasse mich beeinflussen, und viele meiner Arbeiten stehen in explizitem Austausch mit bereits bestehenden Werken. Das zieht sich durch.

Historische Figur – das lässt sich ja auch weit denken. Vieles, was mich geprägt hat, stammt aus dem späteren 20. Jahrhundert, also aus einer Zeit, die sich mir näher anfühlt. Vielleicht gerade deshalb fand ich es spannend, für die Ausstellung in Worpswede zu überlegen, welche Bezüge ich eigentlich zu Paula Modersohn-Becker habe. Und die gibt es tatsächlich – sie reichen zurück bis in meine Schulzeit in Hamburg, wo ihr Werk – vielleicht durch die nahen lokalen Bezüge- immer wieder auftauchte. Mich hat interessiert, wie mich das beeinflusst hat – damals und heute. Ihre Malerei fühlt sich mir nicht fern an, aber ich wollte verstehen, wie ich Jahrzehnte später aus meiner heutigen Perspektive, und 25 Jahre nach meinem Verlassen Norddeutschlands, darüber denke. Und ob ich als Deutsche mit iranischem Hintergrund Modersohn-Becker wirklich nur aus deutscher Perspektive sehen kann.

Mich reizt es, Bezüge herzustellen, die nicht sofort offensichtlich sind – gerade jene, die kulturelle und geopolitische Spannungen sichtbar machen. In der Auseinandersetzung mit einer Figur wie Paula Modersohn-Becker interessiert mich, wie sich Fragen nach Zugehörigkeit, Sichtbarkeit, und Weiblichkeit über Zeit und Raum verschränken, – die Suche nach einem weiblichen Blick, der nicht domestiziert wird.

Ich bin seit einigen Jahren eher wenig in Deutschland, bin aber hier aufgewachsen. Diese mehrfachen Verortungen – als Teil einer postmigrantischen Generation, die mit strukturellen Rassismen umgehen muss und zugleich auch mit deutschen Kunstinstitutionen arbeitet – prägen meine Perspektive stark. Dieses fragmentierte Dazwischensein, auch ein Außenseiterdasein, interessiert mich: Wie existiert man in welchem Kontext? Wer darf eigentlich sprechen, wer bezieht sich worauf, und welche Stimmen werden gehört? Wer stellt welche Bezüge her, und aus welcher Perspektive? Gerade auch über den deutschen Kontext hinaus.

Philine: Das ist spannend. Gerade die Ausstellung sollte ja eine zeitgenössische, erweiterte Position integrieren. Du sprichst von Fragmentierung, von der Frage, wer überhaupt sprechen darf. Ich finde, das leistet deine Arbeit auch: Sie öffnet unterschiedliche Blickwinkel und Narrative, während die Ausstellung insgesamt recht homogen wirkt. War das ein bewusster Gegenpol von dir?

Anahita: Ja, zumindest habe ich das versucht. Mich interessieren in der Ausstellung Besucher:innen unterschiedlichster Hintergründe, Schulklassen etwa. Wer fühlt sich wodurch angesprochen, wer nicht? Was wird vom Museum kommuniziert, was nicht? Ich mag keine abgeschlossenen Narrative, weil sie oft reduktiv und didaktisch wirken.

Das Schöne an der Auseinandersetzung mit Paula Modersohn-Becker war, dass sie selbst fragmentarisch gearbeitet und auch geschrieben hat. Ihre Briefe und Tagebucheinträge sind nicht linear, sondern offen und manchmal überraschend widersprüchlich. Das fand ich spannend – sich ihrer Arbeit auf diese Weise zu nähern, statt sie zu stilisieren oder zu vereinfachen, die Arbeit ernst zu nehmen, die Künstlerin ernst zu nehmen, und das aus einer nicht vorweggenommenen Perspektive. Modersohn-Beckers Werk wird oft mit einem unreflektierten Einverständnis betrachtet, viele nennen sie nur „Paula“ oder „unsere Paula“ als wäre es eine gute Bekannte oder Verwandte. Das ist aber ja auch eine Vereinnahmung. Ich wollte das nicht machen, ich wollte einen Schritt zurücktreten und mir die Arbeiten wirklich ansehen und lesen– jenseits dessen, was gemeinhin über sie gesagt wird. Für mich war das auch interessant, weil ich oft mit Themen arbeite, die sich auf Iran oder weitere globale Kontexte beziehen – auf das Verhältnis zwischen westlichem kunsthistorischem Kanon und kulturellen Räumen außerhalb dieses Kanons.

Philine: Du hast erwähnt, dass du dich viel mit Texten beschäftigt hast – also nicht nur mit ihrem bildnerischen Werk, sondern auch mit ihren schriftlichen Hinterlassenschaften. Welche Rolle haben diese Quellen für dich gespielt? Hast du sie als historische Dokumente behandelt oder freier als narrative Ausgangspunkte genutzt

Anahita: In meiner Videoarbeit „آسمان تقسیم‌ناپذیر (Āsmān-e taqsim-nāpazir)“ kommen Zitate aus Briefen und Tagebüchern von Paula Modersohn-Becker vor. Ich bin die Schriften fast komplett durchgegangen. Ich bleibe dabei sehr nah am Original – verändere nichts, sondern zitiere exakt, mit Angabe von Jahr und Adressat:in.

Aber natürlich treffe ich eine Auswahl. Ich wähle bestimmte Passagen aus, die mich interessieren. Dabei wurde deutlich, wie sich ihre Texte über die Jahre verändern – je nach Lebenssituation, ob in Bremen, Paris, oder in Worpswede. Das ergibt ein fragmentarisches, aber faszinierendes Bild.

Diese Auswahl kombiniere ich mit Zitaten und Stimmen iranischer Frauen, die ich gesammelt habe. Auch diese Auswahl ist fragmentiert – eine Zusammenstellung von verschiedenen Stimmen und Ideen, im Video gesprochen von neun unterschiedlichen Personen, die miteinander in Beziehung treten. Es geht mir darum, eine Vielstimmigkeit zu zeigen, keinen reinen Zufall, sondern bewusste Gegensätze und auch Verknüpfungen.

Das Zitieren zieht sich durch viele meiner Arbeiten. Ich zitiere explizit, benenne die Quellen, gehe aber gleichzeitig ganz frei damit um – so, wie es künstlerisch möglich ist, anders als im akademischen Schreiben. Diese Freiheit nutze ich bewusst.

Philine: Ich finde, diese Herangehensweise hat eine enorme Stärke. Aus wissenschaftlicher Perspektive fällt mir besonders auf, wie du mit Zitaten und Quellen arbeitest. Du benennst sie klar, aber durch ihre neue Platzierung erhalten sie eine andere Bedeutung. Das Historische verliert an Gewicht oder bekommt eine neue Brisanz.

Anahita: Selbst wenn man dokumentarisch arbeitet oder geschichtliche Genauigkeit anstrebt – es bleibt ja immer ein Stück weit Konstrukt. Ich versuche das als Künstlerin sichtbar zu machen, indem ich verschiedene Elemente kombiniere und anstatt eines Narrativs diese Konstruktion aufzeige.

Philine: Diesen Ansatz gibt es auch in der Wissenschaftsforschung, oder der Philosophie, wo sowohl die eigene Forschungsperspektive sichtbar gemacht wird, als auch die Nähe zwischen Faktizität und Fiktion beleuchtet wird. Dein künstlerischer Umgang mit Quellen zeigt, dass jede Interpretation von Fakten immer auch Fiktion ist, eine Konstruktion, die einer bestimmten Perspektive folgt. Du machst deutlich, dass es viele mögliche Erzählweisen gibt.
War dir dabei von Anfang an klar, dass du Paula Modersohn-Becker in den Dialog mit gegenwärtigen Themen bringen würdest – etwa mit gesellschaftlichen Fragen oder mit Bezügen zum Iran und dem Nahen Osten? Oder hat sich das erst während der Recherche entwickelt?

Anahita: Ich hatte das von Beginn an im Kopf, aber nicht als festes Konzept. Ich wollte herausfinden, ob und wie das funktionieren könnte. Die Arbeit stellt diese Frage selbst: Wie kann man solche Bezüge herstellen? Kann man das überhaupt, und was passiert, wenn man es tut?

In der Videoarbeit ist meine eigene Stimme nicht direkt hörbar, aber sie ist in der Auswahl der Zitate natürlich präsent. Das Nachdenken darüber, welche Position ich in meiner Arbeit einnehme, ist mir wichtig. Gerade, wenn es um iranische Stimmen und Frauen geht, finde ich es extrem wichtig zu fragen: Wer wird gehört, wer bekommt eine Plattform? Wie werden bspw. in westlichen Erzählungen von „Emanzipation” immer wieder die Körper anderer Frauen benutzt, um eigene Fortschrittlichkeit zu behaupten?

Die Bewegung „Woman, Life, Freedom“ ist 2022 weltweit zirkuliert, aber in westlichen Kontexten oft verkürzt oder sentimentalisiert rezipiert worden. Mich interessiert nun, wie diese Bewegung und die Worte – Frau, Leben, Freiheit – in 2025 im deutschen Kontext gelesen werden, in einem Land, das gleichzeitig Solidarität betont und strukturelle Diskriminierung produziert. Wie iranische Stimmen – und allgemein Stimmen aus dem Nahen Osten – in Deutschland wahrgenommen werden. Oft geschieht dies durch die Linse eines westlich-liberalen Verständnisses von Emanzipation oder Widerstand, das selten die strukturellen Machtverhältnisse im eigenen Land reflektiert. Das “Befreiung” und “Solidarität” eigentlich als neokolonialen Akt denkt. Diese Form der Projektion und Vereinnahmung ist subtil, aber tiefgreifend, und sie zeigt sich auch im Kunstbetrieb und in medialen Diskursen. Wenn westliche Diskurse über „Frauenrechte” oder „Befreiung” sprechen, dann meist als Spiegel ihrer eigenen moralischen Reinheit und Überlegenheit. Solidarität wird hier schnell zum ästhetischen Accessoire: Banner an Fassaden, T-Shirts, Unterstützung dort wo man die Idee von ‚westliche Werten’ nicht hinterfragen muss, während dieselben Institutionen Künstler:innen aus dem Nahen Osten misstrauisch befragen, sobald sie Palästina erwähnen. Es passiert da so viel Schmerzhaftes und Gewaltsames und, als jemand der außerhalb von seiner künstlerischen Praxis auch ganz direkt politisch organisiert ist, frage ich mich manchmal, ob man das überhaupt künstlerisch bearbeiten kann.

Ich kann das nicht wirklich beantworten, und deshalb ist mein Ansatz, zuerst zuzuhören und den Mechanismen zu misstrauen, mit denen Stimmen aus dem Nahen Osten – und oft gerade weibliche Stimmen – in westlichen Kontexten gefiltert, übersetzt oder politisch vereinnahmt werden. Ich versuche zu beobachten was da ist, ohne sofort zu werten oder meine Perspektive aufzuzwingen. Ich lasse die Stimmen stehen und versuche ihnen Raum zu geben – gerade, weil ihnen oft kein Raum zugestanden wird.

Philine: Das ist ein wichtiger Punkt. Viele Stimmen werden ja sofort kategorisiert oder instrumentalisiert – ihnen wird ein Sinn übergestülpt, der nicht ihrer Herkunft entspricht.

Anahita: Genau. Das passiert ständig, und es hat politische Konsequenzen. Übersetzung und Veröffentlichung ist da oft eine Form von Macht. In westlichen Diskursen gilt Verständlichkeit als Voraussetzung für Anerkennung – wer unverständlich bleibt, gilt als ‚schwierig‘ oder ‚nicht nachvollziehbar’. Ich sehe das Recht, unlesbar zu bleiben, auch als ein Recht auf Selbstbestimmung. Widerspruch zuzulassen bedeutet hier nicht zu provozieren, sondern Raum zu schaffen, um anders zu hören.

Philine: Ich finde, deine Arbeit reflektiert das sehr bewusst. Und diese Frage, wie man damit umgehen kann, überträgst du auch auf das Publikum. Als Betrachter:in spürt man das und denkt selbst weiter. Es gibt keine einfache Antwort. Das ist eine der Stärken der Arbeit: Sie hält die Frage offen.

Anahita: Das war mir wichtig. Ich wollte bewusst anders damit umgehen – keine Vereinfachung, keine symbolische Vereinnahmung.

Philine: Du hast neben der Videoarbeit auch eine Arbeit im öffentlichen Raum realisiert. Wie wichtig ist dir dieser Aspekt – also außerhalb des Museums zu arbeiten, jenseits des geschützten institutionellen Rahmens

Anahita: Sehr wichtig. Ich finde es schön, dass das geklappt hat, weil die Außenarbeit in engem Bezug zu den Themen steht. Das Museum ist ein Ort der Kontrolle – es weiß, wie es mit Kunst sprechen will, es erreicht ein bestimmtes Publikum – aber wer geht dorthin, wer sieht die Arbeit? Im öffentlichen Raum verliert die Arbeit diese Sicherheit, begegnen die Menschen ihr zufällig, unabhängig von Interesse oder Vorwissen. Die Arbeit ist an verschiedenen Orten in Worpswede sichtbar, zugänglich für alle, ob sie wollen oder nicht. Die Außenarbeit ist bewusst fragmentiert. Sie besteht aus neun Worten in verschiedenen Sprachen, und macht den Bezug zum Slogan „Frau, Leben, Freiheit“. Mich interessiert – gerade auch im Spannungsfeld zwischen künstlerischer Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung – was passiert, wenn ich diesen Slogan in seine Bestandteile zerlege und in drei Sprachen – Farsi, Englisch und Deutsch – in den öffentlichen Raum bringe.

Was passiert, wenn man den Slogan nicht als feste Parole liest, sondern in 2025 reflektierter, fragmentierter und als offene Frage? Was bedeuten die Worte in Deutschland, im Jetzt, an den Wänden von Worpsweder Häusern? Ai WeiWei schreibt in seinem Text über Deutschland im Oktober 2025: „When the majority believe they live in a free society, it is often a sign that the society is not free. Freedom is not a gift; it must be wrestled from the hands of banality and the quiet complicity with power.“

Philine: Für mich ergänzen sich die beiden Arbeiten – die Videoarbeit und die Außenarbeit – sehr stark. Sie funktionieren jeweils eigenständig, aber gemeinsam entfalten sie ihre ganze Wirkung. Gerade im Kontext von Worpswede, einem Dorf, nicht einer Großstadt, ist diese Präsenz im Raum sehr deutlich. Man begegnet den Fragmenten an unterschiedlichen Orten, und durch diesen minimalen Eingriff – das Auseinanderlösen, das Übersetzen – entsteht die Möglichkeit, neu über den Slogan nachzudenken. Man löst ihn aus den gewohnten medialen und politischen Schubladen und erlebt eine produktive Irritation.

Anahita: Das freut mich, das du das sagst. Genau das war die Intention: Irritation zu erzeugen, die den Blick öffnet. Manche verstehen Farsi, andere nicht. Für die einen ist ein Wort lesbar, für die anderen nicht.

Philine: Ja, das stimmt. Und gerade diese Mehrsprachigkeit, das Nebeneinander von Verstehen und Nichtverstehen, ist ein starkes Bild.

Anahita: Genau. Es geht nicht darum, alles verständlich zu machen, sondern darum, Unterschiedlichkeit und Ambivalenz sichtbar zu lassen – und zu zeigen, dass das in Ordnung ist.

Philine: Schön. Dann kommen wir zum Ende – vielen Dank für das Gespräch.

Anahita: Danke dir.